Analyse: So denken die Abgeordneten von Rot-Schwarz in Berlin

Rot-Grün in Berlin ist gescheitert, jetzt verhandeln SPD und CDU. Doch passen beide Parteien inhaltlich zueinander? Wir haben die Kandidaten-Check-Antworten der Abgeordneten aus dem Wahlkampf ausgewertet und sind dabei auf zahlreiche Streitthemen gestoßen: Kita-Gebühren für Gutverdiener, Wasserbetriebe, Studiengebühren - in diesen und weiteren Punkten liegen die Abgeordneten von Rot und Schwarz vollkommen über Kreuz. Eine Analyse.

von Martin Reyher, 07.10.2011

 

Am Ende scheiterte es also an drei Kilometern Stadtautobahn, zumindest offiziell. Wenn die CDU in der kommenden Woche die Grünen am Verhandlungstisch ablöst und Koalitionsgespräche mit der SPD aufnimmt, liegen die neuen Streitthemen bereits auf dem Tisch. Rückkauf der Wasserbetriebe, Beitragsfreiheit bei Kita-Plätzen, Abschaffung von Studiengebühren sind nur einige der Punkte, bei denen sich Rot und Schwarz mit vollkommen konträren Positionen gegenüberstehen. So zumindest haben sich deren neu gewählte Parlamentarier vor der Abgeordnetenhauswahl am 18. September beim Kandidaten-Check von abgeordnetenwatch.de geäußert. Da die allermeisten Abgeordneten (bei der SPD 42 von 48, bei der CDU 35 von 39) beim Kandidaten-Check mitgemacht und zu 25 landespolitischen Themen Stellung bezogen haben, ergibt sich nun ein äußerst aussagekräftiges Bild, wofür die Protagonisten in einer möglichen großen Koalition inhaltlich stehen. Das Ergebnis der nachfolgenden Analyse lässt sich so zusammenfassen: Bei fast allen Konfliktthemen, mit denen sich SPD und CDU nun konfrontiert sehen, herrschte zwischen Rot und Grün weitgehend Einigkeit. Umgekehrt liegt Rot-Schwarz in zahlreichen zentralen Punkten auf einer Linie, bei denen Sozialdemokraten und Grüne sich unvereinbar gegenüberstanden.

 

Dies sind die Konfliktfelder bei Rot-Schwarz:

 

MINDESTLOHN

Für die SPD-Abgeordneten ist die Sache klar: Die künftige Landesregierung soll sich im Bundesrat für einen gesetzlich festgeschriebenen Mindestlohn einsetzen. Bei der CDU teilt nur eine einzige Parlamentarierin uneingeschränkt diese Meinung. „Ich vertete hier eine Mindermeinung in meiner Partei“, antwortete Emine Demirbüken-Wegner beim Kandidaten-Check. „Aber eben darum: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, egal woher jemand kommt ......! Und eben dies ist über das 'freie Spiel der Kräfte' nicht mehr gewährleistet!“

 

FRAUENQUOTE:

Der überwiegende Teil der SPD-Abgeordneten hält eine Frauenquote in Führungspositionen für erforderlich, lediglich zwei Politiker (Robert Schaddach und Fréderic Verrycken) lehnen dies ausdrücklich ab. Fréderic Verrycken begründete seine Position wiefolgt: „Es kann nicht angehen, dass Frauen immer noch schlechter entlohnt werden und in Führungsebenen weniger präsent sind, als Männer. Aber ob eine generelle Quote hier vom Großkonzern bis zum kleinen Mittelständler weiterhilft, da bin ich skeptisch.“ Vollkommen gegensätzlich ist das Meinungsbild in der CDU-Fraktion. Vier Abgeordnete sprechen sich für eine Quotierung aus (Christian Gräff, Cerstin Richter-Kotowski, Jürn Jakob Schultze-Berndt, Cornelia Seibeld) , der überwiegende Teil - 28 von 39 MdAs - ist jedoch dagegen. Quotenbefürworter Schultze-Berndt antwortete beim Kandidaten-Check: „Eine Beteiligung von Frauen in Führungspositionen wird das Bewusstsein um die Voraussetzungen für Vereinbarkeit von Familie und Beruf voranbringen. (Meine Frau ist übrigens gegen die Quote).“

 

LANGZEITARBEITSLOSE

Vollkommenen gegensätzlich sind die Positionen von CDU und SPD auch bei der Frage, ob das Land Berlin Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose finanzieren soll. Die Mehrheit in der SPD-Fraktion ist dafür, die CDU-Fraktion dagegen. In beiden Parteien gibt es allerdings je vier Abgeordnete, die vollkommen anderer Meinung sind als die große Mehrheit ihrer Fraktionskollegen. In der CDU sind dies Danny Freymark, Stephan Lenz, Falko Liecke und Peter Trapp (Pro öffentliche Arbeitslosenförderung), in der SPD Renate Harant, Alex Lubawinski, Fréderic Verrycken und Ralf Wieland (Contra).

 

CITYTAX

Als einziger CDU-Abgeordneter spricht sich Dirk Stettner für die Einführung einer CityTax für Touristen aus. Er könne sich eine "Auto-Tax" gut vorstellen - „allerdings nicht 'nur' für Touristen, sondern alle ohne 'B-' Kennzeichen.“ 31 Fraktionskollegen sind allerdings dagegen. In der SPD-Fraktion gibt es eine klare Präferenz für eine CityTax. 30 Abgeordnete gaben beim Kandidaten-Check an, sie hielten eine solche Touristensteuer für erstrebenswert, acht Abgeordnete sind gegensätzlicher Meinung.

 

WASSERBETRIEBE

Auch hier sind die Positionen der beiden Parteien ebenso eindeutig wie gegensätzlich. Während sich die Mitglieder der SPD-Fraktion klar für einen Rückkauf der Berliner Wasserbetriebe aussprechen, lehnt der überwiegende Teil der CDU-Parlamentarier diesen Schritt ab. Innerhalb der CDU-Fraktion treten nur vier Abgeordnete (Emine Demirbüken-Wegner, Christian Gräff, Uwe Lehmann-Brauns, Peter Trapp) für eine Rekommunalisierung ein. Emine Demirbüken-Wegner im Kandidaten-Check: „Ja, das gehört zu Berlin! Nur, wenn der Senat die Grundwasserentnahmeabgabe senkte und die Gewinnausschüttung -die er zur Finanzierung seiner gemachten Schulden verwendet- reduzierte, dann wären erste Schritte zur Senkung der Wasserpreise auch ohne Rückkauf gemacht!“

 

KITA-GEBÜHREN

Beim Thema Kita-Gebühren für die Kinder von Gutverdienern ist die Position der SPD-Fraktion eindeutig: Die letzten beiden Kita-Jahre sollen beitragsfrei bleiben. Unter den CDU-Abgeordneten gibt es in dieser Frage geteilte Ansichten. Während sich zehn Parlamentarier dieser Meinung anschließen, spricht sich eine Mehrheit von 21 Abgeordneten dagegen aus. Auffallend: Nicht nur SPD und CDU liegen in dieser Frage inhaltlich weit auseinander. Auch SPD und Grüne wären im Fall eines gemeinsamen Regierungsbündnisses in diesem Punkt wohl aneinandergeraten. Denn mehr als die Hälfte der grünen Abgeordneten (13 von 24 MdAs) ist dagegen, dass Gutverdiener ihre Kinder weiterhin kostenlos in die Kita schicken können. Nur jedes vierte Fraktionsmitglied der Grünen (6) teilt hier die SPD-Mehrheitsmeinung.

 

STUDIENGEBÜHREN

Ohne Ausnahme sprechen sich die SPD-Parlamentarier im Abgeordnetenhaus für ein beitragsfreies Studium aus. Beim potentiellen Koalitionspartner CDU schließen sich lediglich drei Abgeordnete dieser Position an: Christian Gräff, Dirk Stettner und Niels Korte. Korte erklärte beim Kandidaten-Check: „Aufgrund meiner Erfahrung als Lehrender an einer Hochschule lehne ich Studiengebühren ab. Denn sie tragen erheblich dazu bei, dass Studenten neben dem Studium arbeiten müssen. Das verzögert die Studienzeit erheblich. Auch aus finanzieller Sicht sind Studiengebühren nicht sinnvoll.“ Der CDU-Abgeordnete Stettner antwortete: „Bildung (Kita, Schule, Uni) soll generell beitragsfrei sein. Die Umverteilung erfolgt über die Steuern.“ Innerhalb der CDU-Fraktion gibt es allerdings eine eindeutige Mehrheit (28 von 39) gegen ein beitragsfreies Studium.

 

WAHLRECHT AB 16

Keine Einigkeit herrscht bei den potentiellen Koalitionspartnern auch in der Frage Wahlrecht ab 16. Die SPD ist klar dafür (29 von 48), die CDU strikt dagegen (34 von 39). In der CDU-Fraktion spricht sich lediglich der Abgeordnete Stefan Evers dafür aus, künftig bereits 16jährige mitentscheiden zu lassen: „Viele gute Erfahrungen mit der Partizipation Jugendlicher im politischen Geschehen z.B. der Bezirke (Kinder- und Jugendparlamente) oder auch Parteien (CDU: Mitgliedschaft ab 16) widerlegen für mich die These, dass in diesem Alter die Reife für den verantwortungsvollen Umgang mit dem Wahlrecht fehlt.“ Auch in der SPD-Fraktion gibt es gegensätzliche Meinung. Abgelehnt wird eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre von den Abgeordneten Daniel Buchholz, Renate Harant, Erol Özkaraca, Reimund Peter und Robert Schaddach. Der Abgeordnete Peter vertritt den Standpunkt, dass eine Herabsetzung des Wahlalters „nichts an dem mangelnden Interesse für Politik bei vielen jungen Menschen ändert.“ Die Jugendorganisationen der Parteien sollten vielmehr überlegen, warum so wenig Jugendliche sich für Politik interessieren. „Danach kann man nochmal über dieses Thema nachdenken.“ Renate Harant antwortete beim Kandidaten-Check: „Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus geht es um weitreichende Entscheidungen, die viele Jugendliche durch ihre Komplexität überfordern. Das Wahlrecht ist ein wichtiges Bürgerrecht, das man ernst nehmen muss.“

 

Diese Themen bergen Konfliktpotential, Einigung scheint aber möglich: Letzteres hängt zum einen damit zusammen, dass die Meinungsbildung nicht endgültig abgeschlossen ist, da zahlreiche Abgeordnete von SPD und CDU unentschlossen sind. Zum anderen gibt es innerhalb der Fraktionen zu diesen Sachfragen noch keine einheitliche Position, so dass der Verhandlungsspielraum relativ groß ist. Bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen könnten sie deswegen als Verhandlungsmasse dienen.

 

  • PRIVATISIERUNG von Wohnungsbaugesellschaften, Stadtreinigung, BVG und Messe: Im Grundsatz sind sich SPD und CDU einig: Öffentliche Betriebe sollen nicht verkauft werden. Alle 42 SPD-Abgeordneten vertreten diese Position, bei den Christdemokraten sind es knapp die Hälfte (20 von 39). Allerdings sind 16 CDU-Abgeordnete in dieser Frage unentschlossen.
  • WENIGER TEMPO 30-ZONEN: Eine Mehrheit der CDU-Abgeordneten (20 von 29) spricht sich für die Streichung von Tempo 30-Zonen im Stadtgebiet aus. Allerdings ist fast jeder Dritte Christdemokrat (12 von 39) für eine Beibehaltung der bisher ausgewiesenen verkehrsberuhigten Zonen und liegt damit auf derselben Linie wie die Mehrheit der SPD-Abgeordneten (40 von 48).
  • MEHR POLIZEI: Die CDU-Abgeordneten sprechen sich ausnahmslos für die personelle Aufstockung der Polizei aus. Innerhalb der SPD-Fraktion gibt es dagegen drei unterschiedliche Lager. Jeweils 16 Abgeordnete sind ebenfalls für mehr Polizeibeamte bzw. sind in diesem Punkt unentschlossen. 10 SPD-Abgeordnete halten dagegen nichts von einer Aufstockung der Berliner Polizei.
  • STÄDTISCHER WOHNUNGSBAU: 41 der 48 SPD-Abgeordneten sind der Meinung, die städtischen Wohnungsbaugesellschaften sollten aufgrund steigender Mieten künftig mehr Wohnungen bauen. Diese Auffassung wird nur von einer Minderheit in der CDU-Fraktion geteilt (11 von 39). 19 CDU-Abgeordnete sind diesbzgl. unentschlossen.
  • ALTERNATIVE KULTURSZENE: Berlin soll die alternative Kulturszene stärker fördern - dafür sprachen sich beim Kandidaten-Check 35 der 48 SPD-Parlamentarier aus. Eine große Gruppe der CDU-Abgeordneten ist zwar ebenfalls dafür (17 von 39). Allerdings gibt es zahlreiche Gegner (7) und Unentschlossene (11) in dieser Frage.
  • NPD-VERBOT: Nach Meinung von 39 der 48 SPD-Abgeordneten soll sich das Land Berlin für ein Verbot der NPD einsetzen. Zahlreiche CDU-Abgeordnete sind zwar dagegen (16 von 39), allerdings sind auch zahlreiche christdemokratische MdAs für ein NPD-Verbot (10) oder noch unentschlossen (9).
  • MIGRANTENQUOTE IM ÖFFENTLICHEN DIENST: 31 der 39 CDU-Abgeordneten sind gegen eine solche Quote bei Neueinstellungen im öffentlichen Dienst. Dieser Meinung schließen sich 15 SPD-Parlamentarier an, ein Großteil (19 von 48) ist jedoch noch unentschlossen. In der CDU-Fraktion gibt es mit Christian Gräff und Cerstin Richter-Kotowski zwei grundsätzliche Befürworter einer Migrantenquote. Gräff antwortete beim Kandidaten-Check, eine Quote müsse so geregelt sein, dass eine Stelle auch dann besetzt werde, wenn keine qualifizierten Bewerber mit Migrationshintergrund vorhanden sind.

 

Update 16:00 Uhr: Die Nachrichtenagentur dapd zitiert den Landes- und Fraktionschef der Berliner SPD, Michael Müller, mit den Worten, gebührenfreie Bildung sei für die Sozialdemokraten "nicht verhandelbar" (pdf). Damit deuten sich in der Tat schwierige Verhandlungen bei den oben genannten Themen "Studiengebühren" und "Kita-Gebühren für Gutverdiener" an, bei denen SPD und CDU gegensätzliche Positionen einnehmen. Laut dapd legt sich die SPD auch bei der Privatisierung von Landesunternehmen wie Vivantes, BSR, BVG und Wohnungsbaugesellschaften auf ein Nein fest. Wie oben bereits angedeutet, dürfte es trotz der Unentschlossenheit zahlreicher CDU-Abgeordneter in dieser Frage eine Einigung mit dem potentiellen Koalitionspartner kommen. In dem Agenturtext wird auch auf die obenstehende Analyse Bezug genommen.

 

Update 10.10.2011: Heute morgen führte RadioEins vom RBB ein Interview mit unserem Kollegen Gregor Hackmack zum Thema dieses Blogartikels: [audio:http://download.radioeins.de/mp3/_programm/7/20111010/0710_berlin.mp3|titels=Interview zum Thema mit Gregor Hackmack auf RadioEins, RBB]

 

Hinweise: - Eine Auflistung der 25 Kandidaten-Check-Thesen und deren genaue Formulierung gibt es hier (pdf). - Abweichungen in der Summe der CDU-Abgeordneten bei obenstehenden Diagrammen ergeben sich, weil ein CDU-Abgeordneter nur einen Teil der Kandidaten-Check-Thesen beantwortet hat. - Der Kandidaten-Check wurde in den sechs Wochen vor der Abgeordnetenhauswahl am 18. September 2011 durchgeführt. Hierzu wurden die Direktkandidaten aller Parteien per Mail angeschrieben. Die Beantwortung der 25 Thesen erfolgte über ein Onlineformular. Die Kandidaten konnten ihre Auswahl optional mit 300 Zeichen begründen. Der Kandidaten-Check ist hier noch immer online. - Die Antworten eines Kandidaten können auf der jeweiligen Profilseite (Punkt "Kandidaten-Check") in unserem Archiv nachgelesen werden.

 

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