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Ehrenkodex, Verpflichtungserklärungen, Fairnessregeln: Wie Parteistrategen das Wahlrecht untergraben (wollen) - Update

Wahlkampf mit angezogener Handbremse: Damit die SPD-Parteiprominenz bei den Landtagswahlen in Hamburg und Bremen keine unangenehme Überraschung aus den eigenen Reihen erlebt, sollen sich die übrigen Kandidaten in der Kampagne zurückhalten. Die Parteioberen fürchten offenbar den Einfluss der Wähler, die die Wahllisten diesmal bunt durcheinander wirbeln könnten.

von Martin Reyher, 08.02.2011

 

Regel Nummer 1 eines gewieften Wahlkampfstrategen lautet: Wahlen sind zu wichtig, um sie dem Wähler zu überlassen (…am Ende wird er sein Kreuzchen womöglich bei den Falschen machen.) In Hamburg, wo am 20. Februar ein neues Landesparlament gewählt wird, haben die Parteilenker gerade allen Grund zur Nervosität. Denn dort sind die Wähler diesmal besonders unberechenbar. Ihr Kreuzchen können sie nun nicht mehr nur bei einer Partei machen, sondern alternativ auch hinter dem Namen eines oder mehrerer Kandidaten auf der Landesliste. Insgesamt zehn Kreuze kann jeder Wahlberechtigte verteilen, je fünf bei den Kandidaten in seinem Wahlkreis sowie bei den Kanddiaten und/oder Parteien auf der Landesliste. Für die Parteistrategen ist das ein Albtraum. Vollkommen sichere Listenplätze für altgediente Parteifreunde gibt es nicht mehr, statt dessen können wir Wähler die mühsam und nach diversen Proporzen austarierten Listen auf Wahlkreis- und Landesebene nun bunt durcheinander wirbeln. So bekommt auch der beim Nominierungsparteitag auf Listenplatz 28 durchgereichte Kandidat noch eine Chance. Doch die Parteioberen haben längst einen vermeintlichen Ausweg aus der für sie misslichen Lage gefunden. Die Hamburger SPD etwa hat mit ihren Kandidaten kürzlich eine Art Vertrag geschlossen, den sie „Verhaltenskodex oder Fairnessregelungen“ nennt. Wer im Wahlkreis oder über die Landesliste nominiert werden wollte, musste eine interne Verpflichtungserklärung unterschreiben, die abgeordnetenwatch.de vorliegt. Darin heißt es unter dem Punkt "Fairnessgrundsätze":

Es muss ... vermieden werden, dass die Reihung, über die die aufstellenden Gremien der Partei entschieden haben, durch welchen Mittelsatz auch immer (Geld, Personal, Werbematerial oder persönliche Ansprache) einer/eines einzelnen Wahlkreis- bzw. Landeslistenkandidatin bzw. und -kandidaten zulasten einer/s anderen Kandidierenden verändert wird.

Im Wahlkampf gelte daher die Faustregel "alles zu vermeiden, was eine/n andere/n Mitbewerber/in unzulässig benachteiligt." Was als harmlose „Fairnessregel“ daher kommt, kann als nachdrückliche Empfehlung vor allem an die Kandidaten auf den hinteren Listenplätzen verstanden werden nach dem Motto: Betreib' keinen Wahlkampf, durch den Du am Ende gewählt werden könntest! Denn das, so die Logik, wäre äußerst unfair gegenüber den Parteifreunden, die vor einem auf der Liste platziert sind. Vielmehr soll das Scheinwerferlicht im Wahlkampf ungehindert auf die Parteiprominenz strahlen. Mit den sog. „Fairnessregeln“ wird nicht nur das neue Hamburger Wahlrecht untergraben, sondern auch die Macht der Parteifunktionäre zementiert. Motto: Parteigremien und Delegierte haben entschieden – daran sollen die Wähler bitte schön nichts mehr ändern. Dabei waren es in Hamburg die Bürger selbst, die durch mehrere erfolgreiche Plesbiszite ein solch weitreichendes Wahlrecht erkämpft hatten, das nun bei der Bürgerschaftswahl zur Anwendung kommt. Doch nicht nur die SPD treibt die Sorge vor der Unberechenbarkeit der Wähler um. Schon vor der letzten Bürgerschaftswahl im Februar 2008 machte sich die CDU intern Gedanken über die Auswirkung des damals reformierten Wahlrechts, das den Wählern erstmals fünf Wahlkreisstimmen (bei einer Parteienstimme) ermöglichte. „Offenkundiges Entsetzen“ habe geherrscht, so protokollierte im November 2006 ein Teilnehmer einer CDU-Klausurtagung, als ein Referent die Geschichte von der Kommunalwahl in Frankfurt erzählte, wo nach einem ähnlichen Wahlrecht abgestimmt wurde: „In Einzelfällen“, so wird der Referent in dem internen Gedächtnisprotokoll, das abgeordnetenwatch.de vorliegt, zitiert, „seien eine Prinzessin von Hannover und ein Banker über dreißig Plätze [auf der Liste] vorgerückt.“ So kann es gehen, wenn die Wähler über die Auswahl ihrer Abgeordneten selbst entscheiden! Die bei der Tagung anwesenden CDU-Mandatsträger durchfuhr angesichts dieser Ungeheuerlichkeit offenbar ein gehöriger Schreck, denn in dem Protokoll heißt es über den weiteren Sitzungsverlauf:

Umfangreich wird ein Ehrenkodex diskutiert, mit dem man Auswüchse von 'Exoten' verhindern will. Die Mehrheit scheint dafür. Es gibt aber auch schwere Bedenken hinsichtlich des darin manifestierten Misstrauens und der Durchsetzbarkeit.

Als die Runde am darauffolgenden Tag wieder zusammentritt, einigt man sich laut Protokoll u.a. auf folgende Richtlinien:

  • Es gibt keine Kandidaten-Plakate.
  • Kandidaten dürfen sich nur vor der heißen Wahlkampfphase bekannt machen. In den letzten vier Wochen vor der Wahl liegt der alleinige Fokus auf dem Spitzenkandidaten.
  • Spenden für Kandidaten gehen zu 50 Prozent an die Partei für den zentralen Wahlkampf.
  • „ein zu erarbeitender Kodex wird die Kandidaten zu diesen Regeln verpflichten. Für 'Exoten' werden Sanktionen auf anderen Ebenen angedroht.“

Nichts wird also dem Zufall überlassen, wenn es um Stimmen, Sitze und Prozente geht - damals wie heute. Dass den Parteioberen an einem möglichst geschlossenen Auftreten ihrer Truppe gelegen ist, ist verständlich. Dass aber jenen Kandidaten, die wie auch immer herausstechen, Sanktionen angedroht werden, verstößt gegen jegliche Fairness-Grundsätze. Der Verein Mehr Demokratie e.V. hat kürzlich die wichtigsten Parteien in Hamburg nach der Existenz von ähnlichen Richtlinien für ihre Kandidaten gefragt. Dazu äußern wollte sich bislang niemand. Zum Glück liegt die Entscheidung darüber, welche Kandidaten am Ende ins Parlament einziehen, in den Händen von uns Wählern! Durch ihre Fragen an die Kandidaten auf abgeordnetenwatch.de und mittels unseres Kandidaten-Checks können Sie herausfinden, ob nicht vielleicht doch der vermeintlich aussichtslose Kandidat auf Listenplatz 28 Ihre Stimme verdient hat. Sie haben die Wahl – nutzen sie Sie!

 

Erst fragen, dann wählen: Zum Wahlportal auf abgeordnetenwatch.de Welche Kandidaten stimmen mit Ihnen überein? Machen Sie den Kandidaten-Check zur Hamburgischen Bürgerschaftswahl

 

Update von 16:25 Uhr: In der zweiseitigen "Richtlinie der Hamburger SPD für ihre Bürgerschaftskandidatinnen und -kandidaten (Verhaltenskodex oder Fairnessregelungen)" heißt es unter Punkt 4 "Verpflichtungserklärung":

Alle Bewerber/innen um eine Kandidatur verpflichten sich vor Einreichung der Wahlvorschläge beim Landeswahlamt durch Unterschrift zur Einhaltung dieses Verhaltenskodex.

Allerdings schreibt der Vorsitzende der SPD-Bürgerschaftsfraktion, Michael Neumann, in seiner Antwort auf eine Bürgerfrage bei abgeordnetenwatch.de:

Ich kenne diese von Ihnen zitierte Vereinbarung nicht. Habe auch als Kandidat so etwas weder vorgelegt bekommen, noch unterschrieben. Das ist eine Angelegenheit der Parteien, als Fraktionsvorsitzender kann ich Ihnen da leider nicht mehr sagen.

 

Update von 18:10 Uhr: In Bremen hat die wahlkämpfende SPD ebenfalls „Fairnessregeln“ für ihre Kandidaten festgeschrieben, berichtet der Weser Kurier. Im Vorfeld der Bürgerschaftswahl, die am 22. Mai 2011 stattfindet, dürfen SPD-Kandidaten nur auf „Gruppenplakaten mit mehreren (mindestens fünf oder sechs) Kandidatinnen und Kandidaten“ werben, zitiert die Zeitung aus der Richtlinie. Es dürften „keine Personenplakate“ geklebt werden, einzige Ausnahme: Bürgermeister und Spitzenkandidat Jens Böhrnsen. Der Weser-Kurier spricht von einem „Porträt-Verbot“. Diese Vorgaben würden in der Partei „nicht durchweg als unproblematisch eingestuft“, heißt es in dem Artikel weiter. Denn wie in Hamburg gilt auch in Bremen ein neues Wahlrecht, das den Wählern mehr Einfluss ermöglicht. Dort kann neuerdings jeder Wahlberechtigte fünf Stimmen auf die Kandidaten in seinem Stadtteil frei verteilen. Wer sich als Kandidat auf einem hinteren Listenplatz mit einem engagierten Wahlkampf einen Namen macht, hat gute Chancen, bei der Bürgerschaftswahl über die Parteiliste „nach oben“ gewählt zu werden und ins Parlament einzuziehen. Doch das dürfte schwierig werden, wenn er im Stadtteil keine eigenen Wahlplakate aufhängen darf. Die Absicht der Parteistrategen ist offenbar ähnlich gelagert wie in Hamburg: Damit die Parteiprominenz auf den vorderen Listenplätzen nicht von unbekannten Kandidaten auf den hinteren Rängen überholt werden, sollen diese sich nicht im Stadtteil bekannt machen können. In manchen Stadtteilen gibt es allerdings gar keine fünf SPD-Kandidaten, die für ein Gruppenfoto zur Verfügung stehen könnten – teilweise tritt, wie in Obervieland, nur ein Sozialdemokrat an. Dies führt zu der grotesken Situation, dass für ein Gruppenfoto Kandidaten aus anderen Stadteilen angeworben werden müssen, um überhaupt mit einem Foto auf Wahlplakaten präsent zu sein.

 

Update vom 10.2.2011: Der Hamburger SPD-Kandidat Karl Schwinke hat heute die Existenz der Richtlinien für Bürgerschaftskandidaten seiner Partei indirekt bestätigt. In seiner Antwort auf eine Bürgerfrage schreibt er:

Mit den Fairness Regeln möchten wir den innerparteilichen Frieden in unserer Partei wahren. Wir wollen uns mit den anderen Parteien auseinandersetzen und keinen Wahlkampf unter den eigenen Kandidaten initiieren. Alle Parteimitglieder haben bei der Kandidatenaufstellung die Möglichkeit, sich um einen Listenplatz ihrer Wahl zu bewerben. Ich sehe es als gutes Recht der Partei an, dass sie durch die Platzierung der Kandidaten in einer Listenreihenfolge auch ihre Prioritäten zum Ausdruck bringt und sich damit ein Profil gibt. So werden fachliche Qualifikationen berücksichtigt und auch Seiteneinsteigern eine Kandidatur ermöglicht. Ihre persönliche Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten bleibt davon unberührt. Darin sehe ich einen großen Vorteil des Wahlrechts. Unabhängig davon, welche Gründe für die Partei hinsichtlich der Reihenfolge der Kandidaten ausschlaggebend waren, hat der Wähler die Möglichkeit eigene Prioritäten zu setzen. Damit können auch Kandidaten gewählt werden und in das Parlament einziehen, die von der Partei nicht auf den vorderen Plätzen gesetzt worden sind. Der Wähler entscheidet über die Direktkandidaten und über die Listenkandidaten.

 

Update vom 11.2.2011: Der Blog Haltungsturnen hat die Verpflichtungserklärung der Hamburger SPD veröffentlicht. Kommentierend heißt es dazu:

Ich finde einige Passagen in diesem Papier skandalös. Und sie offenbaren eine Angst der SPD, die mich vielleicht nicht überrascht, aber doch befremdet. Dafür erklären sie aber immerhin, warum ich viele, viele CDU-Plakate sehe, auf denen lokale Kandidaten um fünf Stimmen bitten, aber keine von der SPD (außer für die Plätze 1 und 2 in den Wahlkreisen).

 

Update vom 14.2.2011: Laut der Hamburger SPD-Kandidatin Juliane Timmermann wurde die Verpflichtungserklärung nicht unterzeichnet. Das schrieb sie als Antwort auf eine Bürgerfrage bei abgeordnetenwatch.de.

 

Update vom 17.2.2011: Ein User macht uns darauf aufmerksam, dass es auch bei der Hamburger Linken ein "Fairnessabkommen" gibt. Dieses ist auf der Partei-Homepage öffentlich einzusehen. Auszüge:

Die KandidatInnen, die für die Wahlkreislisten, die Landesliste oder die Bezirksversammlungslisten kandidieren, werden aufgefordert, das Fairnessabkommen (s.u.) zu unterzeichnen. Der Landesvorstand empfiehlt allen Wahlgremien, nur solche KandidatInnen zu wählen, die sich zur Fairness verpflichten. Fairnessabkommen: Als BewerberIn für die Landes-/Wahlkreisliste für die Bürgerschaft (Bezirks-/wahlkreisliste für die Bezirksversammlung …) erkenne ich die Listenaufstellung als politische Willenserklärung der Partei an. Ich setze mich solidarisch und mit vollem persönlichem Einsatz für den Erfolg der Liste ein. Ich erkläre, dass ich keine privaten Geldmittel für meinen Wahlkampf einsetzen werde. Mögliche eigene oder im Umfeld gesammelte Wahlkampfspenden werden in den zentralen Wahlkampfsfonds auf Landesebene (Bezirksebene) überwiesen. Ich akzeptiere die Entscheidungen über den Einsatz persönlicher Wahlkampfmittel wie Personenflyer, Plakate etc. durch die zuständigen Parteigremien.

 

Update vom 30.3.2011: 23 der 121 Bürgerschaftsabgeordneten verdanken ihr Mandat dem neuen Wahlrecht, wie das Portal Wahlrecht.de ermittelt hat. Sie erhielten mehr Stimmen als die vor ihnen platzierten Kandidaten und wurden so "nach oben" gewählt. Inzwischen gibt es Überlegungen, beispielsweise von der neuen Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit, das Wahlrecht wieder zu ändern. Ihrer Meinung nach ist dies zu kompliziert, was sich in einer geringen Wahlbeteiligung und einer Vielzahl an ungültigen Stimmen äußere.

 

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