Wie dem Bundestag bei einer Verfassungsänderung die Abgeordneten abhanden kamen

Freitagmittag: Der Bundestag stimmt über eine Verfassungsänderung ab, doch es fehlt jeder sechste Abgeordnete. Einige Minuten zuvor waren viele von ihnen noch anwesend.

von Martin Reyher, 12.11.2010

Freitagmittag, 12.56 Uhr, im Bundestag steht die Einführung bundesweiter Volksentscheide zur Abstimmung. Es geht nicht um irgendeinen Änderungs- oder Entschließungsantrag. Es geht um eine Grundgesetzänderung.

Man dürfte also einen rappelvollen Bundestag erwarten, flammende Reden, eine Sternstunde des Parlaments. Doch im weiten Rund des Reichstags gibt es viele lichte Stellen, um 12.56 Uhr befinden sich gerade einmal 524 der 622 Volksvertreter im Plenum. Anders ausgedrückt: Es fehlt jeder sechste Parlamentarier, 15,8 Prozent, um genau zu sein. Bei einer Grundgesetzänderung!

Nun könnte man vermuten, dass die Herbstgrippe in diesem Jahr besonders hartnäckig ist und gerade außergewöhnlich viele Abgeordneten heimgesucht hat. Und natürlich fehlen immer auch einige Abgeordnete, die sich – wie die Kanzlerin und ihr Finanzminister – gerade auf Dienstreise befinden. Die hohe Fehlquote um die Mittagszeit ist allerdings weder auf einen Bazillus zurückzuführen noch auf den G20-Gipfel in Südkorea.

Denn knapp zwei Stunden zuvor sieht die Welt im Bundestag noch ganz anders aus. Um 11.03 Uhr gibt es die ersten namentlichen Abstimmungen des Tages. Bei der ersten geht es um die Gesundheitsreform von Schwarz-Gelb (zum Abstimmungsverhalten), bei der zweiten um einen Antrag der Linkspartei zur Gesundheitspolitik. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich noch 555 der 622 Abgeordneten im Plenum und werfen ihre Stimmkarten in die Urne. Von CDU/CSU fehlen insgesamt 17 Abgeordnete, von der FDP 8, von der SPD 23, von den Linken 15 und von den Grünen 4. Kurioserweise gehen der Linken zwischen Abstimmung 1 und 2, die zeitgleich stattfinden, zwei Abgeordnete verloren, bei den Grünen ist es immerhin noch ein Parlamentarier, der an Abstimmung 1 teilnimmt, nicht aber an Abstimmung 2.

Nach den beiden Urnengängen folgt eine eineinhalbstündige Debatte über den Linke-Antrag zur Aufnahme bundesweiter Volksentscheide in die Verfassung (zum Abstimmungsverhalten). Als der Bundestagspräsident um 12.56 Uhr die Abstimmung eröffnet, fehlen auf einmal auch 31 Bundestagsabgeordnete, die einige Minuten zuvor noch anwesend waren. Besonders auffallend ist der Schwund bei den Sozialdemokraten. Statt 23 sind nun 40 SPD-Abgeordnete abwesend, das ist mehr als jedes vierte Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion (27,4 Prozent). Keiner Fraktion gehen in der Zeit zwischen 11.03 und 12.56 Uhr mehr Abgeordnete verloren. (Vielleicht liegt es auch ganz einfach daran, dass die SPD derzeit "wenig Sinn" in einem Gesetzentwurf über bundesweite Volksentscheide sieht, "da ohnehin klar sei, dass er wegen der Verweigerung der Fraktion der CDU/CSU keine Aussicht auf Erfolg habe." (pdf, S. 4)) Doch auch in den Reihen der übrigen Fraktionen gibt es zur Mittagszeit viele freie Sitze (siehe Grafik). Mit insgesamt 98 fehlenden Parlamentariern ist die Abstimmung über die Einführung bundesweiter Volksentscheide eine der Abstimmungen mit der höchsten Abwesenheitsquote in den vergangenen fünf Jahren. Seit 2005 hat abgeordnetenwatch.de nur zwei Bundestagsabstimmungen dokumentiert, bei denen mehr Volksvertreter fehlten.

Man könnte sagen: Das Volk würde gerne entscheiden, darf es (wegen der gescheiterten Verfassungsänderung) aber nicht. Bei vielen Abgeordneten ist es umgekehrt.

Nachtrag vom 14.11.2010: Eine interessante Erklärung für den Abgeordnetenschwund äußert "Frau Frings" in den Kommentaren auf unserer Facebookseite:

Genau das (98 fehlende abgeordnete) ist mir nämlich auch aufgefallen und ich konnte es mir kurzzeitig nicht erklären... angesichts der im beitrag aufgeführten statistik >>der linken [gehen] zwischen abstimmung 1... und 2, die zeitgleich stattfinden, zwei abgeordnete verloren, bei den grünen ist es (...) ein parlamentarier

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